Samstag, 1. Juni 2013

Kein Resümee


Von einem Resümé erwartet man gewöhnlich etwas Grundsätzliches, Bedeutsames. Ich kann hier nur die persönlichen Erfahrungen zusammenfassen und  einen zaghaften Blick in die Kristallkugel wagen. 

Zu allererst: es hat sich gelohnt. Die Zweifel der ersten Tage "Warum tue ich mir das in meinem Alter noch an?" waren schnell verflogen, besonders dank der freundlichen Hilfe vieler Menschen in der Umgebung und dem Mutmachen von Familie und Freunden in Deutschland. Die Gespräche beim abendlichen Dinner haben geholfen, den Kulturschock - und den hat man als Westler, wenn man zum ersten Mal Indien bereist - zu überwinden. Und noch jemand hat mir über die gesamte Zeit freundschaftliche geholfen: der perfekt deutsch sprechende indische Intellektuelle, mit dem ich manches KingFischer zum Abendessen beim Prinzen getrunken habe. Prinzen? Viele  nicht besonders wohlhabende ehemalige Klein-Maharadschas waren gezwungen, Ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nachdem ihnen Indira Gandhi in den siebziger Jahren die staatliche Apanage gestrichen hatte. Viele erinnerten sich an die bekannte Berliner Regel "Wer nichts wird, wird Wirt" und eröffneten ein Restaurant. Manche, wie das in Mandi, sind ganz hervorragend.  

Zur Gewöhnung an das Leben in Indien gehört ganz sicher auch eine gewisse Gelassenheit und die  Bereitschaft, Störendes - ja, auch der Müll auf der Straße gehört dazu - zu ignorieren.
 
Indiens Zukunft ist die Jugend. Nahezu 50% der Bevölkerung ist jünger als 25 Jahre. Da darf man sich die typische westliche Alterspyramide gar nicht vorstellen, ohne ins Grübeln über die weltweiten gesellschaftlichen Veränderungen zu kommen, die den nächsten Generationen bevorstehen. Da sieht selbst China alt aus.

Ich hatte das Vergnügen, mit einem privilegierten Teil dieser Jugend direkt zu tun zu haben. Schulbildung wird von der indischen Regierung ernst genommen. Ob wirklich jedes Kind regelmäßig zur Schule geht, sei dahin gestellt, schließlich sind Kinder auch billige Arbeitskräfte. Aber Kinderarbeit wird ernsthaft bekämpft. Jüngst war in er Zeitung zu lesen, dass das Bundesland Kerala (siehe letzter Blog-Eintrag) frei von Kinderarbeit ist. Und die zwei kostenlosen Schuluniformen dürfen ihre Wirkung auch auf die arme Bevölkerung nicht verfehlen, vermutlich im Gegensatz zu den ebenfalls kostenlosen Schulbüchern. Wie allerdings diese staatlichen Wohltaten die vielen Kinder in den Slums der Städte erreichen, bleibt ein Geheimnis. Sie besitzen keine Adresse.

Aber zurück zur Ausbildung. Es geht bekanntlich um Inhalte und Fähigkeiten. Von verschiedenen Seiten war zu hören, dass die Fähigkeiten vieler Lehrer begrenzt sind. In Diskussionen mit Studenten wurde ich gefragt, ob es noch viele Nazis in Deutschland gebe. Mein Kurzreferat zu NPD, jugendlichen Neonazis und NSU ging an der Sache vorbei: In der Schule habe das Thema eine große Rolle gespielt, und zwar immer vor dem Hintergrund der Verbrechen des zweiten Weltkrieges. Die Zivilgesellschaft, die sich spätestens seit den 1960er Jahren in (West-)Deutschland entwickelt hat, musste ich mühsam erklären. 
Andererseits ist die Ausbildung in Mathematik und Naturwissenschaften in der Highschool offenbar sehr gut. Das kann sich nicht wirklich kompetent beurteilen, denn die Zugangsvoraussetzung zu IITs ist ein schweres naturwissenschaftlich ausgerichtetes Examen, für das die meisten Kandidaten ein Coaching in Anspruch nehmen. Das wird von privaten Firmen durchgeführt, die in ganzseitigen Anzeigen   - Datenschutz hin oder her -  mit Namen und Lichtbild die Top-50 des vergangenen Jahres feiern, die den Sprung in ein IIT geschafft haben. Andererseits gibt es auch an IITs einige (wenige) schwache. Wie sie die Aufnahmeprüfung bestanden haben, bleibt mir ein Rätsel. 

Die Ausbildung der Eliten ist zweifellos wichtig, ist doch der Ruf nach "Leadership" unüberhörbar. Ob die aber durch reines Fachwissen, wie in den Prüfungen abgefragt, zu erreichen ist, sei dahingestellt. 

Wie die Zukunft aussieht, wird immer auch durch die ökonomische Situation bestimmt. Nach Jahren hohen Wachstums nimmt es derzeit eher ab (von etwas 10% p.a. auf gut 5 % im letzten Jahr). Zum Wachstum der letzten 10 Jahre hat sicher die Computerbranche entscheidend beigetragen. 1% der Bevölkerung sollen das Wachstum geschaffen haben, und davon sind viele in der Informationstechnik zu Hause. Die Schattenseite: die Preise steigen (derzeit etwa 8% p.a.) und das nicht nur für die gut verdienende Bevölkerung, sondern auch für die Armen - gut 30% der Bevölkerung verdienen weniger als umgerechnet 1,25 $ pro Tag, weniger als 100 Rp. (Quelle: TheTribune, Chandigarh). Zum Vergleich: ein Restaurantbesuch kostet pro Person etwa 250 Rp, für 10 Bananen und 5 Orangen zahlt man am food stand 70 bis 100 Rp.

Was in Indien offenbar fehlt, sind (viele!) Arbeitsplätze zur Herstellung von Produkten, die nur eine schnell erlernbare Qualifikationen benötigen. China hat das vorgemacht: in den Wirtschaftszonen wie Shenzen wurden anfangs blinkender Weihnachtsbaumschmuck, Handygehäuse oder Werkzeug für den Heimwerker hergestellt, alles billig zu kaufen bei Aldi, Lidl, Tchibo oder wie auch immer die Großabnehmer heißen. Man mag davon halten was man will: in China sind dadurch einige Hundertmillionen in die Mittelschicht katapultiert worden. Und mittlerweile stellt man auch hochwertige Produkte her. Nicht dass China seine Probleme gelöst hätte, die Landbevölkerung ist größtenteils bitterarm wie die in Indien, aber diejenigen, die ohne irgendeine Ausbildung in die Stadt gezogen sind, haben wenigsten eine Chance, (immer noch bitter wenig) Geld zu verdienen. Slums wie in den Städten Indiens habe ich in China nicht gesehen. Das mag aber daran liegen, dass wir in der kurzen Zeit in China  Städte nie auf eigene Faust entdecken konnten. Zurück zur IT. Trotz der berechtigten Kritik, Indien sei bloß die verlängerte Werkbank der IBMs, SAPs und Microsofts: Sie ist ein wichtiger Motor, der aber künftig Made in India sein sollte. Sowas gibt es in Ansätzen: Infosys ist z.B. ein rein indisches, weltweit agierende Unternehmen für IT-Dienstleistungen. 

Die Entwicklung einer Gesellschaft hängt nicht nur von der Ökonomie ab. Indien ist ein Land mit enormer, Jahrtausende alter kultureller Tradition. Man hat hier bereits Paläste gebaut, als in Deutschland nördlich des Limes mehr Wölfe als Germanen wohnten. Das (heute verbotene) Kastenwesen, die tiefe Religiosität und  Jahrhunderte alte Traditionen haben immer noch enormen Einfluss auf die Gesellschaft. Es irritiert schon mächtig, wenn  ein Intellektueller, nach eigenen Angaben in der Jugend ein politischer Linksaußen, erzählt, selbstverständlich habe er eine Braut für seinen Sohn gesucht ("Mühseliges Unterfangen") und natürlich sei es ganz wichtig, zunächst einmal die Kompatibilität der Gotra festzustellen. Gotra? Die hinduistische Bevölkerung Indiens entstammt sieben Gotras, so zu sagen Stämmen. Innerhalb dieser "Familie" darf man verständlicherweise nicht heiraten. Nur sind seither drei- bis viertausend Jahre vergangen.  Für junge Leuaberte spielt das traditionalistische Denken eine wichtige Rolle: natürlich kennt man das eigene Gotra ("Zu welchem gehörst du?") . Auch das Finden eines Ehepartners durch systematische Suche der Eltern wird als ganz selbstverständlich hingenommen. Neues Denken, durchaus mit Respekt für Tradition, hat immer wieder auch wirtschaftliche Entwicklungen gefördert, ob das die Freiheitsidee der Gründergeneration der Vereinigten Staaten oder die Aufklärung in Europa war, ohne die die industrielle Revolution viel schwerer in Gang gekommen wäre. 

Benutze deinen eigenen Verstand, statt nur auf die Götter zu hoffen, dieses Denken ist für die Jugend Indiens ungewohnt - selbst wenn man jahrelang im Ausland gelebt und am MIT oder in Harvard promoviert hat.

Indien wird in 50 Jahren einer der Giganten der Welt sein, selbst wenn der geistige Wandel nur schleppend verläuft. Das hat auch mit dem Bildungshunger vieler junger Inder/innen zu tun.  Sie wissen: die persönlichen Lebensumstände und damit Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg können entscheidend  durch Ausbildung verbessern werden.  Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil gegenüber den jungen Menschen bei uns, für die Bildung und Ausbildung ohne größere Anstrengung ganz selbstverständlich sind. Entscheidend wird aber sein, ob auch diejenigen, die man bei uns "bildungsferne Schichten" nennt, erreicht werden, sprich die Ärmsten der Armen. Das sind grob überschlagen
250 Millionen Kinder und Jugendlichen. Lesen und Schreiben ist nicht mehr das Hauptproblem. Die Alphabetisierungsrate liegt mittlerweile bei knapp 80% (in den Städten 90). Dagegen ist es um die beruflichen Ausbildung schlecht bestellt. Kein Wunder, fehlt es doch heute noch an geeigneten Arbeitsplätzen .


Und die persönlichen Erfahrungen ("Was finden Sie in Indien am besten?") ?
Fangen wir mit dem Negativen an: Airtel meiden. Sie haben nach 3 Monaten meine gültige Mobilfunknummer kassiert, weil ich irrtümlich für einen Touristen mit 3-Monatsvisum gehalten wurde.  Ohne nationale Mobilfunknummer ist man in Indien ein Nobody. Man kann nicht einmal eine Bahnfahrkarte über das Internet buchen. Und der direkte Ticketkauf klappt nur nach Ausfüllen eines umfangreichen Formulars - natürlich wird auch die (indische) Handynummer abgefragt....

Jetair (nach eigenen Angaben die größte indische Fluggesellschaft) streicht Flüge  ohne Angaben von Gründen (nicht nur meine Erfahrung!).

Und zum Positiven: Indisches Essen ist ausgesprochen lecker. Fast wäre ich zum Vegetarier geworden. Die allermeisten Menschen sind freundlich und hilfsbereit. Da kann es schon mal vorkommen, dass einem auf langer Wanderung irgendwo in den Bergen ein Glas Wasser angeboten wird, bei dem man nicht sicher ist, ob es dem deutschen Reinheitsgebot genügt. Da muss man durch.

Aber im Ernst: Indien ist ein faszinierendes vielseitiges, lebendiges, buntes Land - voller Widersprüche, voller Überraschungen, voller Herausforderungen. Letzteres natürlich nur, wenn man nicht touristisch behütet durchs Land reist.  An manches (Müll!) gewöhnt man sich auch nach Monaten nicht, aber man lernt, darüber hinweg zu sehen. 

 Die Briten haben dem Land zur Unabhängigkeit 1947 das Chaos prophezeit. Entstanden ist die größte Demokratie der Welt. Das verlangsamt manche  Entwicklungen, ist aber doch weitaus menschlicher als die chinesische Tabula-rasa-Politik. Man erinnert sich, dass vor den olympischen Spielen in Peking ganze Stadtviertel platt gemacht wurden. Aber die Korruption blüht  in beiden Ländern.  Die Demokratie macht das Land stabiler. Niemand kann sich einen dramatischen Wandel in Indien vorstellen. Die Herausforderung heißt Armutsbekämpfung und das scheint in Indien eher möglich als im frühkapitalistischen China, wo selbst der Schulbesuch sehr viel Geld kostet.
Indien wäre eine Überdenken und manchmal Überwinden anachronistischer Traditionen zu wünschen - bei Bewahrung der kulturellen Identität.

Ob allerdings die Überwindung der heiligen Kuh durch die vielen aus dem Boden sprießenden Steak-Häuser der richtige Weg ist, sei dahin gestellt.

Hiermit schließe ich meinen Blog zum Abenteuer Indien, ein  Abenteuer, das mich bereichert hat und das ich mit großer Wahrscheinlichkeit wiederholen werde.